Fotografin in der Ukraine << Zurück zum Pressenübersicht  
Bestrebt, meine eigene subjektive Begeisterung über Rita Ostrowskajas Bilder in einen fachmännischen und allenfalls kritischen Rahmen zu stellen, pilgerte ich ins Zürcher Kunsthaus, um mir von Walter Binder die Augen für objektive Beurteilungskriterien öffnen zu lassen. Nüchtern und besonnen machte er mich auf die alte Wahrheit aufmerksam, dass in der Fotografie die Objektivität nur eine und nicht unbedingt die ausschlaggebende Seite ist. Er erzählte von seinen frühen Begegnungen mit jüdischen Menschen, deren schwierige Lage in der Zeit des
Zweiten Weltkrieges ihm als Sohn eines dem Judentum gegenüber aufgeschlossenen Pfarrers nahegebracht wurde und deren Kultur und Ausstrahlung ihn bis heute faszinieren. Er berichtete auch von seinen Reisen für Pro Helvetia nach Osteuropa und von der Begegnung und Freundschaft mit Roman Vishniac, dem bekannten Fotografen, der in den Ghettos der dreissiger Jahre die Welt des Ostjudentums, oft unter Lebensgefahr, ins Bild bannte, eine "verschwundene Welt", wie der Titel seines eindrücklichen Fotobandes lautet.
"Da war ich tief betroffen von diesen Bildern und setzte mich dann auch für die Ausstellung in Zürich ein. Und als dann Rita Ostrowskaja aufgetaucht ist, hat mich ihre fotografische Arbeit sofort interessiert. Natürlich fotografiert sie unter ganz anderen Bedingungen. Vishniac musste ja mit versteckter Kamera arbeiten, und die Menschen in den Ghettos lebten damals bereits unter grosser Bedrohung. Oft spürt man diese Hast des Fotografen, sieht die Angst der Leute, welche aber meist nicht wissen, dass sie fotografiert werden. Ostrowskaja hingegen kann sich Zeit nehmen, die Leute hinsetzen und das Bild genau komponieren. Und das tut sie auch mit grosser Exaktheit. Da ist nichts Zufall. Auch technisch sind ihre Bilder viel perfekter, viel schärfer. Doch die Verwandtschaft ist dadurch gegeben, dass sie 60 Jahre später die gleiche Welt fotografiert: die gleichen Leute in einer ähnlichen Umgebung. Schauen Sie diesen Mann hinter dem Fenster hier bei Vishniac und bei Rita Ostrovskaja ist es eine alte Frau in der gleichen Position: genau der gleiche misstrauische Blick durch die Scheibe, der zurückgeschobene Vorhang, der gleiche alte Fensterrahmen! Sein Bild ist von 1937, ihres fünfzig Jahre später, und doch herrscht, abgesehen von der technischen Entwicklung, die spürbar darübergegangen ist, eine direkte Verwandtschaft."
Während des Gesprächs mit Walter Binder wurde mir klar, was ich bisher nicht verstanden hatte: Wie authentisch eine Fotografie ist, hängt nicht unbedingt davon ab, ob sie ein Schnappschuss ist oder ob das Bild zuvor sorgfältig komponiert wurde. "Diese Fotos haben eine ungeheure Direktheit und Glaubwürdigkeit. Die Leute schauen frontal in die Kamera. Nichts wird manipuliert, beschönigt oder verhässlicht. Alles ist, wie es ist. Ostrowskaja zeigt die Mittel, mit denen sie arbeitet - manchmal sogar via Spiegel im Bild selber: sie legt die Karten offen auf den Tisch und hat nichts zu verheimlichen und will niemanden "erwischen"."
Ich wusste, dass Rita die von ihr fotografierten Personen vor der Aufnahme persönlich kennenlernt und oft lange mit ihnen spricht. Wenn sie es für nötig hält, beeinflusst sie beim Fotografieren auch deren Haltung. Sie hatte mir auch erzählt, dass es für sie viel schwieriger sei, westliche Menschen zu fotografieren. Diese seien so erzogen, dass sie lächeln oder sonst etwas Gewelltes tun und ausdrücken müssen, wenn sie aufgenommen werden, und dabei verkrampfen sie sich. Wenn Menschen sich vor der Kamera nicht zu verbergen und keine falsche Aktivität vorzuspiegeln brauchen, können auch gestellte Fotos sehr authentisch sein.
Und die braune Farbe, der warme Schleier, in den alles eingehüllt ist? "Sie färbt die Bilder nach der Art der Piktorialisten um die Jahrhundertwende ein und gibt ihnen dadurch eine Patina, einen eigenen Geruch. Damit überrnimmt sie auch den piktorialisti-schen Anspruch, Photographien zu machen, die Bilder sein möchten, ja fast Malerei sein könnten. Auch arbeitet sie zum Teil mit sorgfältig gewähltem Kunstlicht, ihre Bilder haben deshalb oft eine zauberhafte Beleuchtung. Sie ist einfach eine unheimlich gute Fotografin."
Walter Binder ist auch von Ostrowskajas Experimenten mit langen Belichtungszeiten begeistert. Sie bringen Dynamik in ihre ansonsten in einer strengen soziologisch dokumentarischen Tradition stehenden Bilder. Das Layout des Bildbandes verbindet beide Aspekte vorteilhaft und sorgt für Überraschung und Abwechslung. Ebenso überzeugen Ostrowskajas anderweitige Serien, die nicht im Rahmen der jüdischen Thematik stehen.
"Sie ist technisch unglaublich gut und sorgfältig! Kaum auszudenken, was sie z.B. mit einer modernen Hasselblad-Kamera - dem "Bentley unter den Fotoapparaten"! - machen würde, wo sie mit verschiedenen Objektiven und vielem technischen Zubehör arbeiten könnte."
Wünscht er sich vielleicht eine modernere Rita Ostrowskaja, womöglich eine, die aus ihrem geliebten Heimatland in den Westen emigriert, weil die Lebens- und Schaffensbedingungen in der von Misswirtschaft, Umwelterkrankungen und sozialem Elend zerrütteten Ukraine so hart geworden sind? "Nein, im Gegenteil! Sie soll dort bleiben und weiterhin so gut fotografieren! Ich wünsche mir eher, dass sie möglichst viele Fotos über das Leben im Osten macht und uns zeigt. Sie soll uns Bilder von der Ukraine bringen, von der wir ja so wenig wissen."



Gabriella Ronkainen, Ein Gespräch mit Walter Binder, Konservator der Schweizerischen Stiftung für Fotografie, Zürich, über Rita Ostrowskaja. Lamed. Zeitschrift für Kirche und Judentum. Zürich. 2/1997.
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