Das Buch: „Fünf jüdische Stetl in der Ukraine“
Das Buch stellt meine fotografische Erforschung von fünf Städtchen (Schargorod, Tschernewtsy, Berditschew, Mogilew-Podolsky und Berschad) dar, in denen das jüdische Leben auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht untergegangen war, und zeigt vor dem Hintergrund der von mir in den Jahren 1989-1991 aufgenommenen Fotos, wie sich diese jüdischen Stetl nach zehn Jahren (1999-2001) verändert haben und wie sie jetzt existieren.
Dieses Buch ist mein zweites Fotoalbum, das dem jüdischen Thema gewidmet ist. Es setzt meine fotografische Betrachtung des Lebens der Juden fort, die in den sogenannten Stetl der Ukraine übrig geblieben sind.
Seit 1989 arbeite ich an dem großen Fotoprojekt "Jüdisches Album", das aus drei umfangreichen Teilen besteht: "Familienalbum", "Juden in der Ukraine, Stetl" und "Emigranten".
Dieses Projekt hat für mich nicht nur die Bedeutung eines "Kreises des jüdischen Lebens", so wie ich ihn sehe, sondern führt mich auch in meine eigene Geschichte. Durch das Fotografieren begann ich mich selbst und die Wurzeln meiner Familie und Verwandtschaft zu erforschen und das war eine wichtige Erkenntnis. Später habe ich eine Formulierung für uns gefunden, dass wir sogenannte "sowjetische Juden" ohne eigene Sprache, Kultur und Tradition sind.
Danach habe ich 1989 das Stetl entdeckt und war glücklich, dass ich meine eigene Herkunft und die nicht so uralten Wurzeln des Judentums im jüdischen Stetl mit den verwandten Gesichtern der Menschen und der besonderen Atmosphäre erkennen konnte. In den vergangenen zwölf Jahren habe ich die Stetl viele Male besucht. Zwischen 1989 und 2001 habe ich 43 Städte, Städtchen und Dörfer meistens allein, aber auch mit kleinen oder größeren Gruppen bereist und viel fotografiert. Dadurch entstand nicht nur eine beträchtliche Fotoserie, sondern auch eine große reiche Welt in meinem Herzen.
Dann habe ich 1993 die USA, 1996 Deutschland und 1997 Israel besucht und die jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion fotografiert. Für mich ist die jüdische Emigration ein Schicksal, das die Juden seit vielen Generationen erleben. Und zum Schluß oder demselben Schicksal folgend bin ich selbst im September 2001 mit meiner Familie aus der Ukraine nach Deutschland umgezogen und wohne zurzeit ständig in Deutschland.
Die Fotoserie "Fünf jüdische Stetl in der Ukraine" ist eine separate Arbeit, die mit dem Teil "Juden in der Ukraine" zusammengehört. Dafür habe ich fünf bekannte Stetl (Schargorod, Tschernewtsy, Berditschew, Mogilew-Podolsky und Berschad), die ich 1989-1991 fotografiert habe, 1999-2001 wieder bereist und meine alte Idee verwirklicht, nach zehn Jahren weitere Aufnahmen von denselben Orten zu machen. In diesem Buch möchte ich vor dem Hintergrund der vor 10 Jahren gemachten Fotografien zeigen, wie derzeit das jüdische Leben in diesen Stetl weitergeht.
Für meine Aufnahmen benutze ich keine moderne Technik - keine digitale Kamera und keinen Computer. Ich fotografiere sehr traditionell mit Schwarzweißfilmen und der professionellen Kamera, sehr oft mit dem Stativ. Den Film entwickle ich selbst und mache im Labor Schwarzweißfotos, denen ich sodann auch im Labor Sepia-Töne zugebe. Das alles ist nicht modern, aber die Bilder sehen meiner Meinung nach vertrauter aus. Und im Buch habe ich die Aufnahmen so angeordnet, als ob sie einander zurufen würden.
Wie bekannt ist, entstand das Stetl als klassische jüdische Siedlungsform in Osteuropa im 15. Jahrhundert und existierte als besonderer jüdischer Kulturraum trotz der Tragödien und Verluste bis zum Zweiten Weltkrieg. Aber sogar während des Zweiten Weltkrieges wurden nicht alle Stetl zerstört, weil die Ukraine sich teilweise unter rumänischer Besatzung in der sogenannten Zone Transnistrien befand. Vier von fünf im Buch präsentierten Stetl, Schargorod, Tschernewtsy, Mogilew-Podolsky und Berschad lagen eben in dieser Zone Transnistrien, und ihre jüdische Bevölkerung wurde während des Zweiten Weltkrieges nicht völlig vernichtet. Berditschew jedoch wurde 1941 unter der deutschen Besatzung von einer schrecklichen Tragödie heimgesucht: Ungefähr 30.000 Juden, die noch dort geblieben waren, wurden erschossen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten einige Stetl der Ukraine wieder auf. Die Religion war unter dem Sowjetregime offiziell verboten, aber im Stetl wurden die Traditionen im Verborgenen bewahrt. Die Juden begingen heimlich die Festtage und backten zu Pessach Matza (Pessachbrot) . Sie sprachen Jiddisch vermischt mit Russisch und Ukrainisch und als Juden haben sie sich relativ wohl gefühlt. Als ich 1989 zum ersten Mal nach Schargorod kam, war ich einfach erschüttert. Es waren "echte Juden", die sich als Juden nicht geschämt haben, wie z.B. wir in Kiew, und es war schön und organisch. Dieses erste Fotografieren vergesse ich nie. Seitdem war ich dreizehnmal in Schargorod und nur zwölf Jahre sind vergangen, aber das jüdische Stetl in Schargorod ist inzwischen fast zerstört. Noch sind einige Juden am Leben , einige Ukrainer können Jiddisch - aber das sind nur noch Überreste des Stetls. Natürlich wohnen dort andere Leute - meistens Ukrainer und Russen aus Dörfern in der Nähe, so verwandelt sich das jüdische Stetl in ein gewöhnliches Städtchen.
Nach meinen letzten Reisen im April und Juni 2001 bin ich sehr deprimiert nach Kiew zurückgekehrt, weil das Leben der Mehrheit der Leute in den kleinen Städtchen sich immer weiter verschlechtert. Die Atmosphäre ist bedrückend und fast alles sieht armselig aus. Die meisten Menschen haben kein Geld, keine Arbeit, nur die bunten Märkte blühen überall. Auf den Märkten verkaufen die Leute Waren, die sie selbst ein bisschen billiger bei anderen gekauft haben. Das ist gewöhnlich eine lange Kette von "Kaufen-Verkaufen", und aus diesem Grund sind in den Städtchen die Waren teuer. Nur Lebensmittel kann man direkt bei den Erzeugern billig kaufen. Auf dem Hintergrund der Armut der Mehrheit baut eine reiche Minderheit ihre großen und schönen Häuser.
Die "jüdische Situation" in der Ukraine sieht nach meiner Meinung eigentlich paradox aus: Die Zahl der verschiedenen jüdischen Organisationen in den großen Städten vergrößert sich und sie sind sehr aktiv - und das geschieht vor dem Hintergrund des fortwährenden Stromes der Juden, die auswandern. Natürlich ist jetzt im Allgemeinen die Situation für die Juden in der Ukraine besser - die alten Menschen erhalten Unterstützung von JOINT (The American Jewish Committee), sogar in kleinen Städtchen, und es wird für sie gesorgt. Obwohl es unter den Juden viele Konflikte gibt, blüht das religiöse Leben in den großen Städten: Einige Synagogen wurden renoviert, viele religiöse Juden (Chassidim) aus verschiedenen Länder können ungehindert zu den Gräbern ihrer Gelehrten (Zaddiks), die auch gut gepflegt werden, kommen. Und sogar die kleinen jüdischen Gemeinden erhalten eine Hilfe und können noch immer existieren. Aber die Juden fahren weg, das Stetl verschwindet und das kann man nicht ändern.
Einige Juden sagen mir, warum fotografierst du diese Armut in den Städtchen, du blamierst uns. Ja, ich weiß, es gibt Leute, die nur das Elend im Stetl sehen. Aber das sehe ich nicht so. Vielleicht stelle ich das Geistige über das Materielle. In der Geschichte der Menschheit gab es viele Weisen, die wunderbare Menschen waren, aber keine schicke Kleidung trugen. Und warum soll das eine Schande sein? Das ist das Leben, das ist unsere Geschichte. Es kann sein, dass das nicht sehr erheiternd ist, aber das ist so. Ja, ich bin sehr traurig, wenn ich nur die Ruinen der Häuser fotografiere, in denen ich mich viele Male mit den Leuten unterhalten habe, aber in diesem Fall bin ich nur eine Fotografin, ich fühle mich völlig als Augen mit einem klopfenden Herzen. Wenn ich fotografiere, suche ich nur nach der Ausdruckskraft, ich versuche, das Geschehen weder auszuschmücken noch es schlechter zu machen.
Und ich muss dazu sagen, dass ich diese jüdischen Gesichter mag, weil ich sie sogleich verstehe und weil ich in die Tiefe dieser Gesichter blicken kann - sie sind das Antlitz meines Volkes.
Rita Ostrowskaja