Das Buch: „Juden in der Ukraine, Städtls, 1989-1994“
In dieses Buch haben Fotografien Eingang gefunden, die mir unendlich viel bedeuten und die vom heutigen Leben der Juden in den ukrainischen Kleinstädten, den sogenannten "Städtln", erzählen.
Ich arbeite an einem großen Projekt, das ich "Jüdisches Album" genannt habe und das aus drei umfangreichen Teilen besteht: "Familienalbum", "Juden in der Ukraine" und "Emigranten".
Bereits seit 26 Jahren beschäftige ich mich mit der Fotografie. Das "Familienalbum" war meine erste Annäherung an das jüdische Thema. Ich wurde in Kiew in einer jüdischen Familie geboren, spreche aber von Kindheit an Russisch. Ich besuchte ukrainische und russische Schulen und wurde wie die Mehrzahl meiner Zeitgenossen in dem Bewußtsein erzogen, daß die russische Kultur die überlegene sei. Leider kann ich kein Jiddisch. Ich fotografiere meine Angehörigen bereits seit langem, doch bewußt habe ich mir das Thema des "Familienalbums" erst 1987/88 gestellt, als die meisten unserer Verwandten in die USA, nach Israel und Deutschland zu emigrieren begannen. Da ich spürte, wie die Zeit verstrich, schlug ich meinen Verwandten vor, sie zur Erinnerung zu fotografieren. Und so hüte ich nun die Porträts meiner Angehörigen. Einige von ihnen sind schon gestorben, die meisten jedoch ausgewandert. Ebenfalls wichtig zu erwähnen ist, daß ich mein eigenes Familienleben fotografiert habe, gewissermaßen als außenstehende Beobachterin. Dabei versuchte ich, das ganz eigene "Klima" in unserem Hause, die Welt der nicht immer einfachen Beziehungen zwischen den Menschen zu zeigen.
Als nahe Verwandte von mir zu emigrieren begannen, war dies für mich weder einsichtig noch angenehm: "Wie kann man nur die Heimat verlassen?!" Wie viele in meiner Umgebung hatte mich der Virus des "sowjetischen Patriotismus" infiziert, und ich wußte nicht, geschweige denn verstand, was um mich herum vorging. Doch diese Zeiten änderten sich sehr rasch, und vom heutigen Standpunkt erscheint es seltsam, daß an die Opfer von Babi Jar und vieler anderer Stätten des Holocaust kein Denkmal erinnerte, daß im Zusammenhang mit der jüdischen Kultur alles verächtlich als "Zionismus" bezeichnet und im Auftrag der kommunistischen Partei nach Kräften verleumdet wurde. Doch ungeachtet dessen hatten wir Freude am Leben, denn wird man im "Sumpf" geboren, von dem es heißt, er sei das Allerbeste, und bekommt nichts anderes zu Gesicht, dann muß man ja glauben, es handle sich um die Wahrheit - bis man schließlich aufwacht...
Natürlich war der Antisemitismus häufig präsent: in der Schule genauso wie bei der Aufnahme in akademische Institute und bei der Arbeitsuche. Aber überall war er verdeckt, über ihn wurde nur untereinander hinter vorgehaltener Hand gesprochen, so daß es Antisemitismus, von außenbetrachtet, nicht zu geben schien. Und es ist noch nicht lange her, daß man im Zuge der sogenannten Perestroika offen davon zu sprechen begann und Informationen frei zugänglich wurden. Wir arbeiteten unsere Geschichte auf und verstanden, daß das Wort "Jude" nicht nur ein unangenehmer Eintrag im Paß ist, der Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche nach sich zog, sondern daß diese Bezeichnung auch die Zugehörigkeit zu einer sehr alten Kultur, die mehr als fünftausend Jahre zurückreicht, bedeutet. Ja, es hat sich sehr viel verändert: Das Land, in dem ich lebe, heißt heute nicht mehr UdSSR, sondern Ukraine, und bisweilen gelingt es mir sogar, ins Ausland zu reisen und Verwandte für das "Familienalbum" zu fotografieren. Die Serie "Juden in der Ukraine" nahm ihren Anfang mit Schargorod, einer Stadt, die ich aus vielen Erzählungen meiner Freunde kannte und wohin ich erstmals im August 1989 zum Fotografieren kam. Weil ich mir - wie so viele Bürger des Landes - nicht vorstellen konnte, daß es in der Ukraine noch sogenannte "Städtl" gibt, bewegte mich das Gesehene zutiefst. Ich unterhielt mich mit den Leuten und fotografierte viel. Diese Gesichter, dieses Licht, diese Eigenarten aufzunehmen, war ungemein interessant! Ich hatte den Eindruck, als würde ich sie schon lange kennen, so gut verstand ich mich mit ihnen... Im Lauf von vier Jahren fuhr ich immer wieder nach Schargorod und verfolgte, wie sich die Häuser ausgewanderter Juden leerten. Von 1991 an fuhr ich auch in andere kleine Städte und Dörfer, die früher traditionell Juden bewohnt hatten. All meine Reisen kamen durch Eigeninitiative zustande, und nur kurze Zeit fotografierte ich für das Institut für Architekturtheorie und Städtebau in Kiew die Denkmäler materiellen Kulturguts des jüdischen Volkes. Ich fuhr und fahre bis heute wie die meisten Menschen um mich herum mit dem Zug und dem Bus. Jede Stadt hat ihre eigene Geschichte und andere Menschen, ermöglicht neue Begegnungen. Die Ukraine ist ein ungewöhnlich schönes, fruchtbares und reiches Land, hat aber auch sehr schlechte und verdreckte Straßen, ewig überfüllte Busse und Züge und dreckige Bahnhöfe. Trotzdem erlebe ich häufig, wie unendlich geduldig, gutherzig und großmütig die Menschen sind. Immer wieder haben mir völlig unbekannte Leute geholfen. Bis jetzt habe ich dreißig Kleinstädte und Dörfer (Städtl) bereist, wo traditionell Juden ansässig waren. Sie vermitteln ganz unterschiedliche Bilder: Eines hat nur noch Relikte von jüdischen Friedhöfen, während im nächsten vereinzelt alte Juden anzutreffen sind. Dagegen wurden in größeren Städten die religiösen und kulturellen Aktivitäten der jüdischen Gemeinden in den letzten Jahren wiederbelebt. Für mich ist dabei das Leben der Juden in den Kleinstädten (Städtin) von vordringlichem Interesse, weil ich die gegenwärtige Situation so beurteile, daß die besondere, einzigartige Kultur des jüdischen Städtls, wie sie sich auf dem Gebiet der heutigen Ukraine ausprägte, vor unseren Augen untergeht. Sie verschwindet zusammen mit den Menschen, die Orte für immer verlassen, in denen ihre Vorfahren jahrhundertelang lebten.
Sehr viele Juden sind im Lauf der letzten Jahre aus der Ukraine emigriert. Und der Exodus hält noch immer an. Durchaus möglich, daß in vielleicht zehn Jahren vielerorts nur noch ein Denkmal davon erzählt, daß dort früher einmal Juden lebten. Aus diesem Grund sind die Fotografien für mich so wichtig.
Viele Fotografen porträtieren berühmte, bedeutende Leute, doch mir stand der Sinn mehr danach, ganz gewöhnliche Menschen so zu fotografieren, wie sie wirklich sind. Jeder Mensch ist interessant, und ich hatte Gelegenheit, mit verschiedenen zu sprechen und ihre Erzählungen in einigen Fällen mit Hilfe eines Diktaphons aufzuzeichnen. Die alten Menschen blicken größtenteils auf erstaunliche Schicksale zurück, manchmal schreckliche, haben sie doch den Zweiten Weltkrieg, den Tod ihrer Freunde und Verwandten, Hunger, Kälte und ein Leben in beständiger Furcht vor dem Druck der Sowjetherrschaft durchgemacht. Ihre Augen haben viel gesehen und erinnern sich an vieles! Diese Aufnahmen wurden für mich zur Entdeckung des eigenen Gefühls für die jüdische Kultur, die ich früher nicht gekannt, aber gespürt hatte. Wir tragen alle solch ein genetisches Gedächtnis in uns. Die unzähligen Wiederholungen in den Gesprächen, die besondere Melodie der Sprache, all dies war ein Widerhall alter Bräuche und Gebete. Ich wollte Fotografien aneinanderreihen wie Perlen einer Kette. Von etwas zu sprechen und es dann zu wiederholen, ist, als spräche man ein Gebet. Und die Fotografien sollten unbedingt einen warmen Braunton haben. An der Serie "Emigranten" habe ich im November 1993 zu arbeiten begonnen, als ich ein Stipendium der Soros-Stiftung erhielt und in die USA reisen konnte. Die Schlüsselfrage des Gesamtprojekts "Jüdisches Album" ist für mich, das Bild des sogenannten "sowjetischen Juden" zu ergründen, eines unendlich verletzlichen Menschen, der sich unter der Sowjetherrschaft herausgebildet hat, unter diesem Druck lebte und sich diesem vielleicht nur äußerlich entwunden hat. Dies alles ist mir sehr vertraut, da ich selbst in dieser Gesellschaft geboren wurde, in ihr aufwuchs und mich schon als Kind verwundert zu verstehen bemühte, wodurch sich meine Verwandtschaft und ich von unseren Mitmenschen unterscheiden. Auch heute noch denke ich häufig darüber nach und halte viele Dinge für unausweichlich, das heißt für einen historischen Prozeß, obwohl ich gleichzeitig all die Ungerechtigkeiten und Tragödien um mich herum schmerzlich durchlebe. Doch ganz gleich wo ich bin, immer erkenne ich sie, diese mir bekannten Gesichter, und im Grund ihrer Augen sehe ich diese immerwährende Trauer, die nur ein jeweils anderer "Rahmen" einfaßt.
Für die Möglichkeit, dieses Buch herauszugeben, möchte ich der Dietrich-Oppenberg-Stiftung, Essen, meine Dankbarkeit aussprechen. Mein Dank gilt aber auch Ute Eskildsen (Fotografische Sammlung Museum Folkwang, Essen), Walentina Iwaschtschenko, Wladimir Oks, Martin Cunz für die redaktionelle Beratung, meinem Mann Oleg und meinem Sohn Alexander für die Hilfe bei meiner Arbeit an dem Buch sowie den Familien Diergardt und Barsky für ihre umfassende Hilfestellung in Deutschland.
Rita Ostrowskaja



Diese Publikation wurde durch den Albert-Renger-Patzsch-Preis der Dietrich-Oppenberg-Stiftung, Essen, ermöglicht.
Redaktion der deutschen Texte
Maria Christina Zopff

Lektorat
Cornelia Plaas

Übersetzung aus dem Russischen
Peter Steger

© 1996 Cantz Verlag und Autoren
© 1996 für sämtliche Fotografien Rita Ostrowskaja

Gestaltung
Valentina Iwastschenko

Gesamtherstellung
Dr. Cantz'sche Druckerei, Ostfildern bei Stuttgart

Erschienen im Cantz Verlag
Senefelderstraße 9
73760 Ostfildern-Ruit
Tel. (0) 711/449930
Fax (0) 711/4414579

ISBN 3-89322-763-6
(Englische Ausgabe ISBN 3-89322-852-7)